Kritische Stimmen? Andere Meinungen?

Endlich richtig krank
Das KiSS-Syndrom - Oder wie Ärzte aus gesunden Kindern zahlende Patienten machen

From: mannrenz@t-online.de (mannrenz@t-online.de)
Subject: Fwd: Welcher Idiot schreibt so etwas?
Date: 09.07.02 11:21:16
------- Beginn der weitergeleiteten Nachricht -------

Bericht aus der Zeitung "Die Zeit" von 35/2000

M E D I Z I N

Endlich richtig krank
Das KiSS-Syndrom - Oder wie Ärzte aus gesunden Kindern zahlende Patienten machen

Von Jan Schweitzer

Bei einer Routineuntersuchung sagte der Arzt der Mutter, dass mit ihrer Tochter etwas nicht stimme. Symptome zeige das Kind zwar keine. Aber später, da drohe Ungemach. Der Mediziner prophezeite der vierjährigen Sabine eine schwierige Zukunft: Konzentrationsstörungen würden das Kind beeinträchtigen, ein Zappelphilipp werde es, Probleme in der Schule seien die fast zwangsläufige Folge - wenn man nicht schon jetzt etwas gegen das Problem mit dem Namen KiSS unternehme.

So wurde aus dem bis dahin gesunden Mädchen für die nächsten Monate eine Dauerpatientin in der Orthopädiepraxis einer Kleinstadt nahe Hamburg. "Bevor man etwas falsch macht, folgt man besser dem Rat des Arztes", sagte sich die verunsicherte Mutter. Langweilen musste sich Sabine beim Arzt nicht, ihr kleiner Bruder Stefan begleitete sie. Denn obwohl auch er der Mutter völlig gesund schien, hatte der Arzt ebenfalls das KiSS-Syndrom diagnostiziert.

KiSS ist die Abkürzung für Kopfgelenk-induzierte Symmetrie-Störungen. Weil ihr Kopfgelenk blockiert sein soll, liegen die betroffenen Kinder mit etwas gebogenem Rücken im Bett. Oder sie drehen ihren Kopf nur zu einer Seite. Glaubt man den KiSS-Ärzten, dann hat die für Unkundige harmlos aussehende Schiefhaltung fatale Folgen: Sie machen das Syndrom für Schlafstörungen, Fieberschübe und Hyperaktivität verantwortlich. Bei bis zu 90 Prozent der Kinder mit chronischem, dauerhaftem Kopfschmerz ist KiSS die Ursache, schätzt Lutz Erik Koch, Allgemeinmediziner und KiSS-Therapeut aus Eckernförde in Schleswig-Holstein. Derart eindeutig ist die Diagnose aber längst nicht für alle Fachleute. KiSS hat vielmehr einen heftigen Medizinerstreit ausgelöst. Auf der einen Seite stehen die Verfechter des KiSS-Syndroms, zumeist Einzelkämpfer aus den Reihen der niedergelassenen Ärzte. Auf der anderen Seite behaupten Experten an Universitäten und Kinderzentren, dass es KiSS gar nicht gibt. Immer wieder fordern sie Beweise und Belege. "Man darf nicht über Jahre etwas propagieren, ohne in dieser Zeit Studien vorzulegen", kritisiert Dieter Karch, ärztlicher Leiter der Klinik für Kinderneurologie und Sozialpädiatrie in Maulbronn. Der Chef der Universitäts-Kinderorthopädie in Heidelberg, Claus Carstens, bezeichnet KiSS gar als "puren Humbug" und spricht von Behauptungen, "die durch nichts belegt sind. KiSS hält einer wissenschaftlichen Prüfung nicht stand."

Trotz aller Zweifel beharren viele Eltern darauf, ihre Kinder seien KiSS-krank. Der Befund ist Balsam auf ihre Seelen, vermutet der Bielefelder Jugendforscher Klaus Hurrelmann: Die handfeste medizinische Diagnose "entlastet die Eltern unheimlich". Macht der Balg Schwierigkeiten, dann gibt es für die Probleme endlich einen wissenschaftlichen Namen. Die Erziehung kann ja nicht schuld sein, wenn das Kind eine Krankheit wie Masern oder Röteln hat.

Der "Erfinder" von KiSS ist gebürtiger Schwabe. Seine Privatpraxis in Dortmund ist gut besucht. Heiner Biedermann hat schon Tausende von KiSS-Kindern mit seiner speziellen manuellen Chirotherapie behandelt: Mit einem Finger drückt er den kleinen Patienten sanft auf einen bestimmten Punkt im Nacken. Auf welche Weise die Behandlung im Körper wirken soll, kann der Meister genauso wenig erklären wie alle seine Jünger. "Man sollte sehr zurückhaltend sein mit großen Erklärungen", schreibt Biedermann in seinem gut verkauften Buch KiSS-Kinder. Selbst nach zehn Jahren eiern die KiSS-Therapeuten durchs medizinische Wörterbuch, wenn sie das Rätsel KiSS zu erklären versuchen. Vage spricht Biedermanns Mitstreiter Koch von "Wahrnehmungsrezeptoren" im Nacken, von "falschen Informationen, die dort reingehen und damit auch die Gehirnfunktion beeinflussen". Deutlicher wird er erst, als er den Auslöser des Schiefhaltesyndroms benennen soll: die Geburt. "Kein Tier, bis auf eine Affenart, muss eine so schlimme Geburt hinter sich bringen", sagt Koch. Die natürliche Entbindung, bei der das Kind sich mit allerlei Verrenkungen durch den Geburtskanal zwängen muss, seien der Auslöser des Übels. Und auch die Gene seien schuld, sagt Koch. Oft beobachte er die gleichen Fehlhaltungen bei Vater und Sohn.

Persönliche Beobachtungen statt wissenschaftlicher Belege diktieren das Konzept der KiSS-Verfechter. In einem Punkt aber sind sie sicher: Ihre Behandlung hat Erfolg. Der Druck auf den Nacken der Kinder löse Blockierungen in der Wirbelsäule. 50 bis 100 Mark verdienen die Ärzte an solch einer Behandlung. Das sind Kosten, die die Krankenkassen meist nicht übernehmen, die sich nach Ansicht der KiSS-Therapeuten aber lohnen: Häufig stelle sich schließlich bereits einige Tage später eine Besserung ein. Die Babys liegen auf einmal gerade in ihrem Bettchen, sie schauen nicht mehr nur zu einer Seite. Plötzlich haben die Mütter keine Probleme mehr beim Stillen. Kinder, die Nächte zuvor ohne Pause weinten, schlafen nun friedlich, ohne einmal aufzumucken.

Und die Heilung soll anhalten. Das vom KiSS-Syndrom befreite Kind kann sich normal entwickeln: keine Angst mehr vor einem hyperaktiven Rabauken, keine Panik angesichts zukünftiger Störenfriede. Es gibt kaum ein Kinderleiden, das KiSS-Therapeuten nicht zu kurieren versprechen, die Palette der Verheißungen wird jährlich größer.

Forsch reden sie auch über Zahlen. Koch schätzt zehn Prozent aller Säuglinge als "auffällig" ein. Übersetzt heißt das: Jedes zehnte Kind hat seiner Meinung nach das Schiefhaltesyndrom. Mal mehr, mal weniger, mal gar nicht sichtbar - und natürlich immer nur vom erfahrenen KiSS-Spezialisten behandelbar.

Die medizinischen Gegner solcher Methoden hingegen meinen, es gebe bei KiSS gar nichts zu behandeln. Der Heidelberger Kinderorthopäde Carstens sagt, die meisten Schiefhaltesymptome verschwänden durch "intensives Abwarten". Dem stimmt auch der Freiburger Kindernervenarzt Rudolf Korinthenberg zu: "Bei diesem so genannten KiSS-Syndrom wird ein meist harmloses Symptom überbehandelt."

Ärztlicher Aktionismus kann gefährlich werden

Doch der Mediziner warnt davor, die KiSS-Therapie bloß als ärztlichen Aktionismus abzutun. Gefährlich wird die Diagnose, wenn sie von ernsthaften Krankheiten wie Tumoren oder Fehlbildungen ablenkt. "Ich habe die Sorge, dass nicht mehr nachgedacht wird, wenn KiSS diagnostiziert wurde", sagt er. Die wirklich helfende Therapie würde dann verzögert, meint auch Ralf Stücker, Leiter der
Orthopädie am Kinderkrankenhaus Altona in Hamburg.

Stücker selbst hat kürzlich ein Kind behandelt, dessen Gesundheit durch eine KiSS-Therapie beinahe ruiniert worden wäre. Der kleine Patient hatte einen schiefen Hals, konnte den Kopf nicht mehr richtig bewegen. Ein KiSS-Heiler hatte "Kopfgelenk-induzierte Symmetrie-Störungen" diagnostiziert und das Kind mit manueller Therapie bearbeitet. Erst der Orthopäde Stücker entdeckte später die eigentliche Ursache der Probleme: Die Halswirbel waren nicht fest miteinander verankert, die Gelenkbänder locker.

Das Kind hatte Glück, dass es bei der manuellen Therapie nicht zu einer Verletzung mit Querschnittslähmung kam. Rechtzeitig konnten die Hamburger Ärzte die Wirbelsäule operieren und Schlimmeres verhindern. So warnt die Gesellschaft für Neuropädiatrie, die Vereinigung der deutschen Kindernervenärzte, in einer Stellungnahme zur manuellen Therapie bei KiSS denn auch vor "Manipulationen im Halswirbelsäulen-Bereich".

Davon lassen sich die KiSS-Therapeuten nicht beirren. Das Drücken im Genickbereich soll sogar die so genannte Aufmerksamkeits-Hyperaktivitäts-Störung (ADHD) vereiteln. Damit versprechen sie, etwas zu verhindern, das wahrscheinlich niemals entsteht. Denn die angeblich so hohe Anzahl von ADHD-Kindern wird von vielen Experten ebenfalls angezweifelt, jetzt erst wieder in einer amerikanischen Studie.

Genauso anfechtbar ist der angebliche Erfolg der KiSS-Therapeuten bei Schreikindern. Die Münchner Psychiaterin Mechthild Papousek ist überzeugt, dass Blockierungen in der Halswirbelsäule in den wenigsten Fällen schuld am ununterbrochenen Schreien der Babys seien. Vielmehr sieht sie die Ursache oft bei den stark belasteten Müttern. Es gebe alle möglichen Gründe, sagt die Leiterin der Münchner Sprechstunde für Schreibabys, das KiSS-Syndrom aber sei nicht verantwortlich. Helfe die manuelle Therapie, liege das meist an der "Suggestivwirkung", also am Placeboeffekt.

Der Freiburger Korinthenberg bezeichnet es als "Geschenk Gottes, wenn ein Arzt zu den
Eltern sagt: Macht euch mal keine Sorgen. Es ist das KiSS-Syndrom, und ich mach euch
das weg!" Kein Wunder, dass die KiSS-Ärzte regen Zulauf haben: Eltern, die zum
KiSS-Therapeuten Koch möchten, warten vier bis fünf Wochen auf einen Termin.

Vielleicht liegt das Problem gar nicht bei den Kindern, sondern bei den Eltern. Dass ein Kind unruhig sei, hänge mitunter davon ab, "ob die Eltern es so erleben", sagt Korinthenberg. Oft seien die Mütter und Väter schlicht vom gesellschaftlichen Druck überfordert, dass aus ihrem Sprössling mal etwas werde. Da wird schon für das Neugeborene Spielzeug nach den psychologisch richtigen Farben zusammengestellt, und die Musik-CD fürs Kinderzimmer soll helfen, aus dem Nachwuchs einen angesehenen Anwalt oder Architekten zu machen. Auf dem Weg zum Erfolg wird jede noch so kleine Abweichung von der vermeintlichen Norm argwöhnisch beobachtet und als krankhaft eingestuft.

KiSS-Therapeuten wie Biedermann oder Koch nehmen die Herausforderung gerne an. Sollen sie einem zwei Monate alten Säugling, der sich und die Eltern mit seinem Gebrüll quält, das segensreiche Handauflegen verwehren? "Eltern und Schreikindern ist es ein geringer Trost, wenn der Kinderarzt ihnen sagt: Das hört in ein paar Wochen von selbst auf", sagt Biedermann. Seine Devise lautet daher: Einfach mal loslegen, der Erfolg wird einem schon Recht geben.

Auch der Orthopäde von Sabine und Stefan legte einfach mal los. Dabei hätte der KiSS-Mediziner den nach Ansicht der Mutter "absolut unauffälligen" Kindern viele überflüssige Arztbesuche ersparen können. Er hätte sich bloß an eine englische Übersetzung des Begriffs KiSS halten sollen, die manch kritischer Kollege für angemessener hält: Keep it Straight and Simple - frei übersetzt: Warum kompliziert, wenn's einfach geht!


(c) DIE ZEIT 35/2000

-------- Ende der weitergeleiteten Nachricht --------

Homepage


© 2002 - kisskidd.de - Erstellt 12.08.2002 - Letzte Änderungen: 14.08.2002